Nachruf auf Marianna Rusche | 1991 - 2022
Marianna besteht ihr Abitur mit Bestnote. Sie ist Schulsprecherin. Sie studiert Psychologie und kognitive Neurowissenschaften. Sie spezialisiert sich auf die Hochbegabtenförderung, arbeitet als Coach des „European Council for High Ability“. Sie engagiert sich beim Weltverband hochbegabter Menschen. Sie übernimmt den Vorsitz der Hilfsorganisation „Digital Helpers“ und gewinnt drei Preise, einen überreicht ihr Angela Merkel. Die FDP-Bundestagsfraktion beruft sie, obwohl Mitglied der „Jungen Union“, in die Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“, wo sie im Herbst 2021 die Koalitionsverhandlungen begleitet. Sie geht nach London und entwickelt ein Start-Up zur Dekarbonisierung der Wirtschaft. Sie singt im Chor. Sie reist mit einem Orchester nach Tansania. Sie spielt Klavier. Sie liebt Bach. Sie pilgert nach Indien zu den „Dienerinnen der Armen“. Sie nimmt an Konferenzen der päpstlichen Stiftung „Fondazione Centesimus Annus Pro Pontifice“ im Vatikan teil und baut dort das „Young International Network“ auf. Sie schreibt an ihrer Doktorarbeit zur Gehirn- und Intelligenzforschung. Sie glaubt an die Wissenschaft. Und sie glaubt an Gott.
Und sie ist am Ende ihrer Kräfte. In der höchsten Not wendet sie sich an Papst Franziskus, sie überreicht ihm während einer Audienz einen Brief, einen Hilferuf. Der Sekretär des Papstes schickt ihr wenig später eine Antwort: „Der Heilige Vater versichert Ihnen gerne seine geistliche Nähe im Gebet. Als Zeichen seiner Verbundenheit lege ich diesem Schreiben einen von ihm gesegneten Rosenkranz bei. Das Rosenkranzgebet helfe Ihnen, an der Hand Marias die Geheimnisse des Lebens Jesu immer tiefer zu betrachten und sich gerade in Krankheit und Schmerzen mit dem Leiden unseres Herrn zu verbinden, der uns nie allein lässt. Papst Franziskus empfiehlt Sie der besonderen Fürsprache der seligen Jungfrau Maria, des Heils der Kranken und der Mutter allen Trostes.“
Für einen Moment findet sie Trost. Doch die Traurigkeit kehrt zurück, wieder und wieder, weicht nicht. Sie weicht nicht, seit Marianna 13, 14 ist. Aber warum nur? Sie ist so klug und lebendig und schön. Außenstehende erkennen nicht, wie schlimm es manchmal um sie steht. Sie sehen diese junge Frau, der alles zufliegt, die alles schafft. Sie erinnern sich an das sprudelnde, fröhliche Mädchen. Das, nachdem es mit den Eltern und dem Bruder von Berlin nach Oelde im Münsterland gezogen war, auf den Wiesen sprang, das mit den beiden jüngeren Schwestern im Garten spielte. Das so viel wusste und las. Ein Kind, das erstaunliche Dinge sagte. Ihr Großvater hatte irgendwo diesen Satz gehört: Wird man von Kindern angehaucht, lebt man länger. Er sagte ihn zu Marianna, die gerade fünf war. Mit kleinem, ernstem Gesicht antwortete sie: „Das Leben kann nur Jesus Christus verlängern.“
Die Familie lebt nach katholischen Grundsätzen, jeden Sonntag Gottesdienst, Gebete vor dem Essen, vor dem Schlafen. Doch bei Marianna ist da noch etwas anderes. Mit 14 lassen ihre Mutter, eine Medizinerin, und ihr Vater, ein Unternehmer und Wirtschaftsethiker, den Intelligenzquotienten des Mädchens testen. Hochbegabt ist sie. Aha, ach so, das ist es also, denken alle. Etwa zur selben Zeit zeigt sich zum ersten Mal diese tiefe Traurigkeit. Sie gehen zu Fachleuten. Deren Diagnose: Depression.
In einem Interview, das im August 2021 im „MinD-Magazin“ erscheint, der offiziellen Zeitschrift von Mensa, einem Netzwerk für hochbegabte Menschen, gibt Marianna einen versteckten Hinweis auf sich selbst, auf einen möglichen Grund ihrer komplexen Krankheit. Sie erklärt, warum sie andere Hochbegabte unterstützt, dass „deren Probleme mit mangelndem Selbstbewusstsein in Zusammenhang stehen. Manche haben das Gefühl, in ihrem Leben nicht viel erreicht zu haben, weil sie als Kinder und Jugendliche im Gegensatz zu Gleichaltrigen zahlreiche kognitive Hürden mühelos überwinden konnten. Da einige Hochbegabte bis zu einem gewissen Alter wenige echte Herausforderungen meistern mussten, fehlt ihnen das Gefühl, Dinge geschafft zu haben. Diese positiven Erfahrungen sind aber zur Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins wichtig.
Sie weiß genau, worüber sie spricht: Nicht zu spüren, dass man eine Leistung erbringt, obwohl doch alle um einen herum ständig über das Erreichte staunen. Das schon Erreichte wiederum steigert die Erwartungshaltung: Ich bin hochbegabt, ich muss etwas Außerordentliches schaffen. Also noch ein Projekt und dann gleich ein weiteres, vorwärtshetzen, um die Fassade aufrechtzuerhalten, was immens viel Kraft kostet. Und dann, immer wieder, dieser Sturz von der Höhe in die Tiefe. Die meisten ahnen nichts von diesen Stürzen. Die Kleider, die sie trägt, sind rot und rosa. Das Zusammensitzen mit ihr. Ihr Zuhören. Ihre Zuneigung. Die Hilfe, die sie anderen gibt. Allein die engsten Vertrauten wissen Bescheid, Familie, Freunde, Therapeuten. Die Therapien funktionieren manchmal eine Weile, manchmal nicht. Ein weiterer Schritt, um zu verstehen, ist das Psychologiestudium. Sie möchte ihre Gefühle rational fassen. Sie gewinnt Einsichten, findet Trost in Vernunft und Wissenschaft. Und immer wieder im Glauben. Ihr Kinderglaube ist zu einem Erwachsenenglauben geworden, selbst in Berlin. Marianna stellt sich den kirchenkritischen Fragen zu Frauen, zu Homosexualität, sie ist kein leichtgläubiger Jünger.
Doch dann findet sie einfach keine Zuversicht mehr im irdischen Leben. Sie sucht einen Priester auf. Will sich vergewissern: Gibt es tatsächlich ein Leben nach dem Tod? Er sagt: Ja! Und sie zweifelt nicht mehr. Am Samstag, dem 5. Februar, geht sie um 18 Uhr in die Kirche und lässt sich noch einmal segnen. Zu Hause setzt sie ihre Kopfhörer auf. Sie liebt Bachs „Johannespassion“. Am Sonntag, dem 6. Februar, ist Marianna tot.
Tagesspiegel am 24. April 2022
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