Nachruf auf Ursula Kampfenkel | 1925 - 2010
Sie lag auf dem Rücken. Lag da, ein wenig betäubt und sah durch ihre Wimpern, jede Linie, jeder Schatten einer Linie wurde zum Streifen einer fernen Erinnerung. An den Fensterscheiben formte sich ein Muster aus den kahlen Zweigen der Linden vor dem Haus. Bisweilen kamen Fetzen unverständlicher Gespräche aus der Nachbarwohnung, Geräusche aus dem Treppenhaus, von der Hufelandstraße, ein hupendes Auto, Fluchen, eilig klappernde Absätze.
Sie lag da, in der Höhle ihrer Wohnung, konnte hören, aber niemand hörte sie, seit dem Morgen, vielleicht schon seit der Nacht. Ihr Körper hatte den langen Winter überstanden, jetzt kam der Frühling, und ihr Körper hatte keine Kraft mehr für ihn. Sie hatte auf ihn gewartet, darauf, das Kissen wieder auf den Fenstersims zu legen, das Mädchen, das seinen roten Ball gegen die Wand warf, zu beobachten, dem weißen Hündchen, das allein in die Hans- Otto-Straße trottete, hinterherzuschauen, auch seiner Besitzerin, einer Französin, die seinen Namen rief, „Iggy“, hinter ihm herlief und es zurücktrug. Mit dem Namen des Hündchens hatte sie nichts anfangen können, Iggy, was soll das sein. Sie fragte, und die Französin erklärte ihr, dass es sich um den Sänger einer amerikanischen Musikgruppe handle, Iggy Pop. Sie nickte freundlich und sagte, es sei aber schon alt, das Hündchen, habe ja nur noch zwei Zähne. Ja, antwortete die Französin, 17 Jahre. Dann ist es noch viel älter als ich, gab sie zurück.
Jetzt lag sie da, auf dem Rücken, die Geräusche, die Farben und Formen verwoben sich, drangen in sie, in ihr Innerstes. Plötzlich zerriss das feine Geflecht. Stimmen kamen näher, direkt über ihr Gesicht. Sie hörte ihren Namen, die Sirene eines Krankenwagens, andere Stimmen. Sie fühlte Hände, die sie betasteten, sie auf eine Trage hoben. Dann lag sie auf der Trage für einen Moment auf der Straße. Hoch über ihrem Gesicht sah sie die kahlen Zweige der Linden. Das Hündchen würde nicht vorbeitrotten, erinnerte sie sich, es war tot, gestorben kurz nach Neujahr. Eines Tages hatte sie die Französin, die in dem Laden unter ihr eine kleine Bar betreibt, blass und traurig vorgefunden. Manchmal trank sie in der Bar ein Glas Crémant, die Französin hatte ihr das Wort erklärt, kaufte kleine runde Walnusskuchen für ihre Cousine in Freiburg.
Jetzt hoben die Hände die Trage, ihr Körper schaukelte zwischen den weißen Tüchern hin und her, die Hände hievten sie in den Krankenwagen und schlossen die Tür.
Mehr als 60 Jahre hatte Ursula Kampfenkel in der Hufelandstraße gelebt. Geboren war sie in Zerbst, zwischen Dessau und Magdeburg. Sie war nie verheiratet, hatte keine Kinder. Arbeitete zur DDR- Zeit im Büro eines Teppichgeschäfts. Ab und an kam ihre Cousine aus Freiburg zu Besuch, ab und an eine Freundin, mit der sie Karten spielte. Die Häuser in ihrer Straße wurden weiß und gelb und rosa. Alte Menschen begegneten ihr immer weniger. Dafür Kinder mit ihren Müttern, die tagsüber zu Hause blieben.
Eine halbe Stunde, nachdem der Krankenwagen wieder losgefahren war, betrat ein junges Paar die Bar der Französin. „Können sie uns sagen, wohin man sich wenden muss, wenn man hier im Viertel eine Wohnung mieten oder kaufen möchte?“ Die Französin zuckte mit den Schultern. Noch einmal die Frage, umständlicher, deutlich artikuliert, als stünde ein bockiges Kind vor ihnen. Die Französin zuckte noch einmal mit den Schultern. Ging dann in Ursula Kampfenkels Wohnung, goss die Blumen und öffnete alle Fenster.
Tagesspiegel, am 26. März 2010
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