Nachruf auf Leo Baumann | 1952 - 2020
So viele Bücher. Bücher, die ein Student besitzen möchte, sich aber nicht leisten kann. Die Bibliothek wäre eine Variante. Doch ist das nicht dasselbe, wie einen druckfrischen, nach Papier und Leim und Leinen riechenden Band in den Händen zu halten und nach dem Lesen in das eigene Regal einzuordnen. Was dann? Man könnte sparen, sich beschenken lassen. Oder klauen.
Bis 2002 erstreckte sich, über mehrere Etagen, gleich neben der Technischen Universität am Ernst-Reuter-Platz, die Buchhandlung Kiepert. Vor der elektronischen Diebstahlsicherung ein Arkadien für Bibliophile mit erweitertem Legalitätsbegriff.
Jeder hatte so seine Technik, man tauschte sich aus. Bis ein Verirrter das Wort „Knesebeck 11“ einwarf. Und die anderen in dezidiert klassenkämpferischem Tonfall erklärten, dass das auf keinen Fall infrage komme, klauen in der „Knesebeck 11“, moralisch absolut minderwertig! Den Großen, den schaden wir, wo wir können, aber nie, niemals den Kleinen, schon gar nicht dieser Buchhandlung, der besten weit und breit.
Leo Baumann hieß der Buchhändler, der in der Knesebeckstraße 11 die Bücher verkaufte, und weit mehr noch, der die meisten davon auch las, auf die gründlichste Weise. Er lebte mit ihnen und in ihnen, und letztlich konnten sich die meisten nicht vorstellen, er habe ein Leben außerhalb dieser Welt.
Was er naturgemäß hatte. Wovon allerdings die wenigsten wussten. Leo Baumann sprach kaum über Privates. Eine Biografie, das wusste er, ergibt sich nicht aus aneinandergepappten biografischen Brocken, die dann, auf Teufel komm raus, in Kategorien der Seelenzergliederung gepresst werden, auf dass die Wahrheit über einen Menschen ans Licht komme. Da das sowieso nicht funktioniert, verzichtete er in aller Regel darauf, Auskunft über sein Leben zu geben.
Einige spärliche Hinweise sind dennoch überliefert. Leo Baumann kam vom niederfränkischen Land, irgendwo bei Würzburg, aus einer Bauernfamilie, hatte viele Geschwister, von denen er sich unterschied, da er früh begann zu lesen, die Bücher, die es in seiner Familie nicht gab, aber in den Bibliotheken der Umgebung. Er hatte Lehrer, die sein Interesse förderten und vorschlugen, er solle ein Priesterkolleg besuchen. Was er auch tat, eine Zeit lang zumindest. Bis ihm die inhaltliche Ausrichtung zu eng wurde und er sich für eine Buchhändlerlehre in Würzburg entschied. Im Anschluss zog er nach Köln, traf den Mann, den er sein Leben lang lieben würde, zog mit ihm nach Berlin, begann Anfang der 80er in der Charlottenburger Buchhandlung, die so hieß wie die Adresse, zu arbeiten und übernahm das Geschäft Ende der 80er nach dem Tod des Besitzers.
Tagein, tagaus stand er im Laden, hochgewachsen, immer in einem weißem Hemd, beglückte Kunden, verschreckte Kunden. Die glücklichen fanden oft, was sie nicht gesucht hatten. Kam jemand, um ein philologisches Standardwerk zu erwerben, wendete er den Blick in die eine, dann in die andere Richtung und hatte seinen ursprünglichen Wunsch auch schon vergessen, denn in den Regalen standen und lagen Bücher, die ihm vollkommen unbekannt waren, die er aber auf der Stelle lesen wollte. Er nahm eins, etwa Hannah Arendts „Menschen in finsteren Zeiten“, zaghaft in die Hand, richtete vorsichtig eine möglichst konkrete Frage an Leo Baumann. Denn so viel verstand er auf der Stelle: Smalltalk mit diesem Mann, der da stumm zuschaute, war unmöglich. Und der Buchhändler begann, darüber zu sprechen, welchen Blick Hannah Arendt in einem der Essays dieses Bandes auf Bertolt Brecht wirft.
In dem Maße, in dem Leo Baumann bestimmte Bücher lobte, vernichtete er andere. Und zeigte sich dabei in Wort und Tonfall nicht gerade zimperlich. Manche Bestseller, auch die im Feuilleton hervorragend besprochenen, nahm er unter keinen Umständen in sein Sortiment. So, wie er keine Allerweltsauswahl besaß, hatte er auch keine Allerweltsmeinung. Es ging ihm einzig darum, was und wie geschrieben wurde, nicht um verbalen Firlefanz. Was ebenjene Kunden, die nach dem falschen Buch fragten, in einem Maß verschrecken konnte, welches wenig mit Geschäftssinn und viel mit Leo Baumanns tief durchdachter Meinung zu tun hatte.
Er besaß jedes Manesse-Bändchen, die gesamte „Bibliothek deutscher Klassiker“ von Suhrkamp und nur von Spezialisten nachgefragte Editionen. Betonte: „Alle Bücher, die bewahrt werden müssen, kommen zu mir.“ Kaufte komplette Werkausgaben, die sich eigentlich nur die großen Buchhandlungen leisten können.
Was sich, wirtschaftlich betrachtet, als fatal erwies. Ja, er hatte seine Stammkundschaft, Philosophiedozenten der TU bestellten für ihre Seminare bestimmte Ausgaben im Dutzend, die selbst von den sonst bei „Kiepert“ klauenden Studenten brav bezahlt wurden. Er hatte diese enorme Auswahl papierener Adventskalender sommers wie winters im rechten Schaufenster ausgestellt (links die Philosophen und Literaten), die das ganze Jahr über von Touristen gekauft wurden. Doch das reichte nicht. Lange hielten die Verlage und ihre Vertreter zu ihm, verlängerten Zahlungsfristen. Die Schulden häuften sich. Mit dem digitalen Handel, dem er sich verweigerte, kam der endgültige Zusammenbruch der Buchhandlung. Und Leo Baumanns eigener. Sein Mann war gestorben, ebenso ein enger Freund.
Sein Körper schmerzte, nachts, am Tage. Er lief an zwei Stöcken, schleppte sich, schlich, schien buchstäblich zu schrumpfen.
Ende des letzten Jahres ließ er los, vollkommen erschöpft. Er starb am 27. Dezember an einem Herzinfarkt.
Knesebeckstraße 11, Januar 2021. Violette und rot-gelbe Tulpen, Callas stehen in Vasen vor dem linken Schaufenster. Zwischen den Blumen Grabkerzen. Die Einbände der Philosophen und Literaten hinter der Glasscheibe sind ausgeblichen. Ein hellblauer Band hat sich aus der Halterung gelöst, ist nach vorn gekippt, das Buch droht zu fallen. Doch es fällt nicht. Autor und Titel sind deutlich erkennbar: Hannah Arendt, „Die Freiheit, frei zu sein“. Ein Passant, der stehen geblieben ist und das Schaufenster betrachtet hat, läuft weiter. Vielleicht nimmt er sich vor, das Buch zu lesen, bald.
Tagesspiegel, am 21. Februar 2021
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