Nachruf auf Birgit Froelich | 1964 - 2022
Sie traute sich wirklich eine Menge. Als ihre Mutter anordnete: „Du wirst Bäckerin“, lief Birgit am ersten Ausbildungsmorgen brav los. Aber nur, um sich bei einem Friseur zu bewerben. Maskenbildnerin schwebte ihr vor, später dann, nach der Lehre. Aber sie verlor das Interesse an der Maskenbildnerei und begann sofort nach dem Friseurabschluss eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten.
Während sie bei der IG Metall arbeitete, führte sie parallel zu diesem hervorragend bezahlten Vollzeitjob einen Blumenladen am Breslauer Platz. Im Haus, in dem sie wohnte, gab es nämlich einen Blumenladen, darin arbeitete Patrick, ein Franzose, der ihr jeden Tag, wenn sie nach Hause kam, eine Rose schenkte. Aus den einzelnen Blumen wurde erst ein Bukett und dann eine Beziehung und dann die Idee fürs eigene Geschäft. Sie nahm einen Kredit auf, richtete alles neu ein, und hastete von nun an jeden Morgen um vier zum Großmarkt, brachte die Blumen in den Laden, fuhr dann zur Arbeit ins Büro, nach Dienstschluss zurück zu den Blumen, räumte auf und kümmerte sich um die Rechnungen. Vor den Laden stellte sie Stühle, auf denen es sich die Leute der Umgebung bei Kaffee und Zigaretten gemütlich machten.
Sie hatte vor, mit einem Mann, nicht dem Franzosen, einen Bauernhof für Pflegekinder zu gründen. Die Sache war schon ziemlich konkret, das Gehöft gefunden, aber bevor es richtig losging, trennte sie sich von dem Mann.
Sie unternahm fünf Indienreisen, färbte sich das Haar hennarot, ließ sich ein Nasenpiercing stechen und badete im Ganges.
Sie begann eine Ausbildung zur Heilpraktikerin und dann auch zur Gestalttherapeutin, alles neben der Arbeit bei der Gewerkschaft.
Sie bekam, zusammen mit einem Australier, zwei Kinder, Julia und Phil. Der Australier hatte ihr im „Far Out“, einer Disko am Ku’damm, seine Telefonnummer auf eine Serviette gekritzelt, sie hatte die Serviette in ihre Jeans gestopft. Ein paar Tage darauf wollte sie Wäsche waschen und fand die Nummer wieder, während ihre Waschmaschine den Geist aufgab. Sie rief ihn an, vielleicht würde er sich ja in Reparaturdingen auskennen. Er kam vorbei, reparierte und blieb.
Als ihre Tochter Julia in die erste Klasse ging, gab es einen Jungen, der ständig Kinder schlug. Sie hatte Angst vor ihm. Und was machte Birgit? Sie kaufte ihrer Tochter ein paar Springerstiefel und sagte: „Tritt zurück!“
Sie zog ununterbrochen um, allein in der Zeit, in der sie mit ihren Kindern lebte, 17 Mal. Der weiteste Umzug ging nach München, zu einer wiedergefundenen Jugendliebe. Die Münchner Vorortdamen spitzten leicht pikiert ihre Münder, als plötzlich die hübsche Berlinerin mit ihren selbstgedrehten Zigaretten auftauchte.
Birgit fand in München eine gute Anstellung beim DGB. Sie ging auf Antikriegsdemonstrationen. Sie schaffte einen Haufen Tiere an, Schildkröten, Hasen, Hunde, Katzen, einen Zebrafinken, Meerschweinchen. Eins davon bekam Junge, in einem Zoohandel wollten sie und die Kinder Vitamintropfen für den Nachwuchs besorgen. Sie nahm das Präparat, steckte es in ihre Manteltasche und verließ den Laden. Der Alarm ging los, die Verkäuferin hielt Birgit fest, die mit gespielter Entrüstung rief: „Was fällt ihnen ein, ich bin hier Stammkunde!“ Die Verkäuferin holte den Geschäftsführer, Birgit ließ die Vitamine in irgendeinem Regal verschwinden und empfing den Leiter des Ladens mit einem rührenden Unschuldslächeln. Wieder draußen, erläuterte sie Julia und Phil: „Regeln sind zum Brechen da.“
Sie traute sich eine Menge. Und es fehlte ihr an Selbstvertrauen. Die Familiengeschichte ist eine Abfolge psychischer und physischer Gewalterfahrungen. Birgits Großmutter hatte geprügelt, Birgits Mutter ebenso. Die Mutter habe als Kind, so wurde es erzählt, ein Geschwisterkind, das als Baby gestorben war, in den Backofen legen müssen. Dann hatte sie neben Birgit noch drei andere Kinder von drei anderen Vätern, und das waren keine guten Männer. Christian, der erste Bruder, war behindert zur Welt gekommen und hatte nicht lang gelebt. Frank, der zweite, verunglückte später als Erwachsener auf dem Motorrad. Bine, die Schwester, starb unter nicht geklärten Umständen.
Birgit, die Jüngste, kannte von ihrem Vater nur ein Foto, die Mutter unterband jeden Kontakt. Sie verdiente ihr Geld als Putzfrau und in der Kneipe ihrer Schwester, in die die Kinder nach der Schule zum Mittagessen kamen. Alles war knapp, vor allem die Zuneigung. Frank, der Zweitälteste, hatte sich mit Wasser verbrüht, seine Narben erinnerten ihn täglich daran. Eines Nachmittags brachte er eine Freundin mit nach Hause. Seine Mutter baute sich vor ihm und dem Mädchen auf und fragte höhnisch: „Na, Frank, heute schon mal in den Spiegel geschaut?“
Über Birgit sagte sie einmal: „Ich liebe sie nicht.“ Birgit hatte das selbst nicht gehört, aber gespürt hat sie es, immer wieder. Sie hatte lebenslang die Vorstellung, alles würde besser werden, irgendwie, sie musste es besser machen. Ein Aufstieg, von Romanze zu Romanze, von Wohnung zu Wohnung, von einer Idee zur nächsten. Ein neuer Aufbruch, ein neues Glück. Und es ist ihr ja gelungen, auch wenn manches schief ging. Auch wenn sie Julia und Phil zu oft zu viel zumutete. Die Ortswechsel, die neuen Männer alle zwei Jahre unterm Weihnachtsbaum, die Unruhe. „Ihr müsst doch richtig wütend auf mich sein“, bemerkte sie später einmal. Und entschuldigte sich bei ihnen.
Patrick, der Franzose mit den Rosen, erkrankte 2021 schwer. Birgit pflegte ihn, und hüstelte währenddessen unausgesetzt. Aus dem Hüsteln wurde ein rasselnder Husten. „Pass auf“, sagte sie, „ich komm dir bald nach.“ Nicht lange darauf erfuhr sie, dass es Lungenkrebs war.
Julia und Phil lagen neben ihr auf der Couch, aßen Chips, schauten Serien, erzählten sich alte Geschichten und lachten, lachten, bis ihnen die Tränen kamen. Kurz bevor Birgit starb, ließ sich jeder von ihnen ein Schiffchen mit aufgestelltem Segel auf den Arm tätowieren. Drei kleine, schwankende Boote.
Birgits Mutter lebt noch, dement in einem Heim. Sie weiß nicht, dass auch ihr letztes Kind gestorben ist.
Tagesspiegel am 15. November 2022
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